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Scripted Reality – Wir leben in Geschichten

18 September 2023
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Wir leben in aufgeregten Zeiten und verwirrenden Zeiten. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass das anders war (oder anders erschien). Ich erinnere mich noch gut an die Zeit als Studentin und Berufsanfängerin (ca. zwischen 1992 – 1998), in der ich mir größtenteils der politischen Wirklichkeit sicher war. Ich lebte in den Narrativen wie in einem stabilen Gebäude. Der Westen war gut. Der Fortschritt lief. Demokratie und Kapitalismus waren ein harmonisches Paar. Die Zeiten des Krieges in Europa waren überwunden. Die Europäische Gemeinschaft wuchs zusammen. Die Welt wurde kontinuierlich freier, verbundener, wohlhabender, besser. Die internationalen Institutionen wie UNO, WTO/GATT, Weltbank, OSZE, OECD und die EU, ebenso wie unsere Regierungen in (West-)Europa, waren der Freiheit und dem Wohlstand der Bevölkerung verpflichtet. Der Kommunismus war überwunden, die Sowjetunion aufgelöst, der eiserne Vorhang gehoben, Osteuropa befreit, Deutschland wieder vereint und alles auf dem besten Weg. Sicher, es war noch nicht alles perfekt auf der Welt, aber alle (im Westen) arbeiteten nach bestem Wissen und Gewissen daran, die Welt besser und sicherer für alle zu machen. Als junge Jurastudentin in Hamburg Anfang der 90er Jahre dachte ich tatsächlich so. Ich studierte deutsches und internationales Recht, las den „Economist“ und die „Monde Diplomatique“, die „ZEIT“ und die „Süddeutsche“ sowieso. Ich studierte im Ausland (im Rahmen des ERASMUS-Programmes), machte Praktika in Brüssel und machte mir Gedanken darüber, wie ich an diesen vielen schönen Fortschrittsprojekten mitarbeiten könnte. Heute sieht die Welt für mich anders aus. Meine und die Perspektive vieler Menschen hat sich geändert. Ist die Welt komplizierter und böser geworden oder wir nur klüger und aufgeklärter? Oder Beides?

Wir erleben ein Aufbrechen der Narrativen, des Narrativs des wohlwollenden Westens, des Narrativs der wohlstandsfördernden Globalisierung, in der die Menschen als globale Gemeinschaft friedlich zusammen leben, des Narrativs der notwendigen Verbindung von Demokratie und Kapitalismus. Und vieler anderer Geschichten mehr.

Wie gehen wir als Gesellschaft damit um? Wir sammeln uns um verschiedene „Lagerfeuer“ (wie es in der Storytelling-Welt heißt), bilden „Bubbles“ oder „Echokammern“, vertrauen verschiedenen Medienarten, manche den „Mainstreammedien“, andere den „Alternativen Medien“.

Das Misstrauen wächst und damit die Verschwörungstheorien und viele, die so bezeichnet wurden, stellen sich über kurz oder lang als wahr oder zumindest wahrscheinlich heraus, wie z.B. die Massenabhörungen durch die NSA oder die Theorie des Laborursprungs beim Corona-Virus. Gleichzeitig wird die Zensur verstärkt, zur Unterdrückung von gefährlichen Fake News und Hassrede oder der Wahrheit (je nachdem, wie man es sieht).

Krise jagt Krise und Viele wissen nicht mehr, was und vor allem, wem sie glauben sollen. Informationen prasseln im 24/7 Nachrichtenzyklus auf uns ein, alle leiden unter neuronaler Erschöpfung. Mit fremden Menschen (bot-Accounts?) wird böse auf Twitter gestritten, Meinung prallt auf Meinung, alles von albernen Comics und Memes bis zu seriösen wissenschaftlichen Forschungspapern wird sich um die Ohren und Augen geknallt, und die Verwirrung wächst mit der Informations- und Meinungsflut. Doch manchmal stellt sich auch Klarheit ein.

Klimakämpfer kleben sich an Kunstwerke und blockieren Autobahnen, Mitglieder der jungen deutschnationalen identitären Bewegung versuchen die North Stream 2 Pipeline eigenhändig zu öffnen, bevor sie von den USA, Russland, ukrainischen Freischärlern – wer weiß es schon – gesprengt wurde, amerikanische und europäische Politiker werfen Russland und China den Einsatz von Armeen von bot-Accounts im Meinungskampf vor und umgekehrt.

Was passiert da gerade? Es ist wie beim Turmbau von Babel, nur anstatt des Sprachengewirrs, stecken wir in einem Fakten- und Meinungsgewirr. Wir erleben ein Aufbrechen von Schichten stabiler Narrative, die seit Anfang des 20. Jhrt. zumindest bei der Mehrheit der Menschen im Westen verfangen haben. Eine Demokratisierung und Zersplitterung des Meinungskampfes. Jeder redet mit. Gleichzeitig wächst die Medienkonzentration, der staatliche Einfluss, die Zensur und die Propaganda. Je umfangreicher der Austausch und die Erkenntnisse werden, je mehr wahre und hilfreiche Informationen in den Diskurs gelangen, desto mehr Lügen und Unterdrückung der Meinungsfreiheit passieren parallel. Vielleicht ist es wie bei dem Traumbild, das C.G. Jung in seinem „Roten Buch“ beschreibt: Je heller das Licht strahlt, desto dunkler und deutlicher wird der Schatten.

How it started, how it’s going

Als ich mit Mitte Dreißig anfing als Kommunikationsberaterin zu arbeiten, war ich ein großer Fan der „Storytelling“-Methode. Nach meiner juristischen Ausbildung, in der es ausschließlich um Fakten, Ratio und präzise Details ging und meiner Tätigkeit als Dramaturgin und Drehbuchautorin, in der ich viel über die Macht und Wirkung von Geschichten lernte, erschien mir die Möglichkeit, mit Geschichten Menschen im gesellschaftlichen und politischen Kontext zu berühren und zu bewegen, sie für die wichtigen Themen der Zeit zu interessieren, Empathie zu wecken und Hilfe zu mobilisieren, als eine große Chance.

Ich hatte Jura aus überwiegend idealistischen Motiven studiert und mich im Studium viel mit Themen wie Gerechtigkeit, internationalem Recht und Menschenrechten beschäftigt. In der Methode des Storytelling sah ich eine Möglichkeit, diesen Einsatz mit kreativen und kommunikativen Mitteln fortzusetzen. Wenig hatte mich in der Schulzeit so bewegt, wie eine Analyse der „I have a dream“-Rede von Martin Luther King. Der Einsatz von Sprache, Metaphern, Emotionen, Rhythmus, Rhetorik im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung hatte mich tief beeindruckt und mir gezeigt, wie wirksam Storytelling und Rhetorik sein kann. Ich suchte mir daher bewusst Kunden im non-profit Bereich aus und hoffte, so einen positiven Beitrag für die Entwicklung in vielen Bereichen leisten zu können.

Im Verlauf meiner Berufstätigkeit lernte ich viel über Kommunikationsstrategie, Kommunikationspsychologie, über das Geschichtenerzählen selbst, aber natürlich auch über die verschiedenen Fachgebiete, in denen meine Kunden tätig waren. Ich recherchierte und arbeitete mich tiefer in die Methode des Storytelling ein und fand sehr gute Beispiele für gelungenes Storytelling aus den USA und Großbritannien und einige aus Australien. Der englischsprachige Raum war uns im deutschsprachigen Raum eindeutig voraus, was „Storytelling“ anging und das Nutzen von Anekdoten, das spielerische Vermengen der privaten und beruflichen Ebene, dem Einsatz von Humor und Gefühlen.

Ich habe immer versucht, Geschichten zu erzählen, damit die Menschen die Wahrheit über eine bestimmte Situation erfahren und sie besser verstehen, um Aufmerksamkeit zu wecken und Konflikte, wo möglich, zu lösen. Aber der Übergang von Kommunikation zu Manipulation und Propaganda ist fließend. Jede Narrative ist notgedrungen nur ein Ausschnitt und eine Version der Wahrheit und damit notgedrungen eine Verzerrung. Als Beraterin kann man hinter die Kulissen gucken und je mehr ich an „Standing“ und Expertise gewann, desto tiefer konnte ich in Inhalte und die Strategien einsteigen und desto mehr erfuhr ich darüber wie Meinung gemacht wird, wie viele „blinde Flecken“ es gab, welche politischen Zusammenhänge nicht erwähnt wurden, wie viel Negatives auf eine vermeintliche Gegenseite projiziert wurde und ich bemerkte (ab ca. 2015 verstärkt), wie sehr die Kommunikation und der öffentliche Diskurs schärfer, angespannter und unversöhnlicher wurde.

Und noch etwas passierte – zunächst unbewusst – mit meiner Wahrnehmung der Welt, der politischen Diskurse und der medialen Darstellung von Ereignissen:

Wenn man sich lange und intensiv mit Dramaturgie beschäftigt, dann beginnt man auf sein eigenes Leben zu schauen, als wäre es ein Film. Man fragt sich zum Beispiel bei einem einschneidenden Ereignis: Ist das ein „Plot Point“ (also ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte)? Erlebe ich gerade eine Tragödie oder einer Komödie? Bin ich wirklich gerade die Hauptfigur in dieser Szene oder spiele ich doch nur eine Nebenrolle?

Und wenn man weiß, wie Geschichten funktionieren, wie man Gefühle und Empathie weckt, wie man die Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenkt und von anderen ablenkt, wie man Zusammenhänge, Strategien, Entwicklungen klar und einleuchtend erklärt und wie man von ihnen ablenkt, Menschen verwirrt und auf die falsche Fährte lenkt, dann beginnt man irgendwann nicht nur im Privatleben, sondern auch die in der Politik, in den Medien und der Gesellschaft, mehr und mehr Narrativen am Werk zu sehen und öffentliche Glaubenssätze und Debatten unter einem dramaturgischen Gesichtspunkt zu betrachten.

Ich begann mehr und mehr zu erkennen, welche Narrativen im öffentlichen Diskurs bewusst eingesetzt wurden und welche unbewusst am Werk waren, welche Techniken benutzt wurden und ein ziemlich gutes Gespür dafür zu entwickeln, wer es (handwerklich) gut und wer es schlecht machte, wer effektive und wer zahnlose Narrative entwickelte und, warum einige in der Gesellschaft oder bei einer bestimmten Zielgruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt verfingen und warum andere das nicht taten. Ich begann anders Zeitung zu lesen, anders politische Reden zu hören und anders auf den Diskurs über gesellschaftliche Themen in den sozialen Medien zu schauen.

Rütteln an den Grundfesten

Hier ein paar Beispiele gesellschaftlicher Narrative, die Grundmuster waren, in denen ich bestimmte politische und gesellschaftliche Themen wahrnahm, ohne sie als solche zu erkennen und die ich im Rückblick als „Spin“ oder „Narrative Management“ (wie es im Fachjargon heißt) erkannte:

Deutsche in der Anti-Hitler-Koalition – Ein Beispiel aus dem 90ern

Hier geht es um die Narrative und die Rolle von PR-Agenturen, Medien und Politikern im Kosovo-Krieg 1999. Wir erinnern uns: Die NATO, die bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend ein Verteidigungsbündnis war, plante geführt von den USA kriegerische Angriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Restrepublik bestehend aus Serbien, Montenegro und dem Kosovo) unter dem Vorwand eines humanitären Einsatzes, aber vermutlich aus geostrategischen Machtinteressen. Ohne Aussicht auf ein Mandat der Vereinten Nationen für Luftangriffe auf Belgrad, wollten sie, nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen von Rambouillet, auf kriegerischem Weg die Serben dazu zu bringen, eine Abtrennung des Kosovo und der Stationierung von NATO-Truppen in ihrem Staatsgebiet zu akzeptieren. Allerdings war die öffentliche Meinung in den europäischen Ländern, insbesondere in Deutschland, gegen einen nicht von der UN sanktionierten und damit völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz, der zudem gegen das deutsche Grundgesetz verstieß. Diese Haltung rührte in Deutschland sicherlich auch aus der historischen Erfahrung des 2. Weltkriegs.

In dieser Situation wurden Mitte Januar 1999 die Vorfälle im kosovarischen Dorf Račak mit einem Schlag zum globalen Medienereignis. Der US-amerikanische Chef der OSZE-Beobachtermission im Kosovo, William Walker, trat es los, als er medienwirksam vor einer mit Leichen gefüllten Grube erschüttert erklärte, dass ein Massaker von unaussprechliche Grausamkeit stattgefunden habe und man Beweise für „Tötungen und Verstümmelungen unbewaffneter Zivilisten“ gefunden habe, wobei „viele aus extremer Nahdistanz erschossen“ worden seien. Die massive Medienberichterstattung verbreitete diese Deutung der Ereignisse um die Welt und insbesondere in die Bevölkerung der NATO-Staaten und zu ihren politischen Entscheidern.

Anfang der 1990er Jahre engagierte zunächst die kroatische Seite und (später dann auch die bosnische und die albanische) die US-amerikanische PR-Agentur Ruder Finn für den „Informationskrieg“. Sie trat eine ganze Welle von Pressemeldungen, Presseterminen, Pressematerial los und richtete sogar ein „Bosnia Crisis Communication Center“ ein. Die von dieser Agentur sorgfältig und bewusst konstruierte Narrative von Serbien als neuem Nazideutschland und Slobodan Milosovic als neuem Hitler, bildete den fruchtbaren Boden auf dem jetzt die Darstellung des sehr komplexen Bürgerkriegs – mit Kriegshandlungen und Kriegsverbrechen von allen beteiligten Parteien – als neuen Vernichtungskrieg und Völkermord durch die Serben an ihrer eigenen Bevölkerung verzerrend dargestellt werden konnte. Die Schemen der schrecklichen Massaker und Völkermorde des 2. Weltkriegs wurden beschworen, erstanden wie Geister auf und legten sich über die aktuellen Ereignisse. Das »Massaker von Račak«, über das tagelang und weltweit ausgiebig berichtet wurde, geriet zum Wendepunkt der NATO-Politik gegenüber Belgrad und veränderte die öffentliche Wahrnehmung in Europa und den USA in Bezug auf Luftangriffe auf Jugoslawien.

Dies ermöglichte dann Joschka Fischers Rede am 13. Mai 1999, in dem die Sätze fielen: „Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“ in der er seine Entscheidung zu der ersten deutschen Beteiligung an einem Angriffskrieg seit dem 2. Weltkrieg begründete.

Vom 24. März 1999 an bombardierte die NATO 78 Tage lang Jugoslawien, bis es im Juni die Stationierung westlicher Soldaten in seiner Krisenprovinz Kosovo akzeptierte.

Als die Berliner Zeitung und der Spiegel im Januar 2001 davon berichteten, das sich für das angebliche serbische Massaker an Zivilisten in einem wissenschaftlichen Abschlussbericht finnischer Gerichtsmediziner keine Beweise finden ließen und sich weder beweisen ließ, dass es sich um Zivilisten handelte, noch, dass sie aus nächster Nähe erschossen worden waren (vermutlich waren es Kombattanten, was natürlich der Tragik ihres Todes keinen Abbruch tut) und auch keine Verstümmelungen oder sonstige Hinweise auf Grausamkeiten gefunden wurden, war das Kind schon längst in den Brunnen gefallen.

Hier wurde also ein traumatisierendes historisches Ereignis (Holocaust/Ausschwitz, die Vernichtung der deutschen jüdischen Mitbürger und anderer Volksgruppen) als Narrative über eine aktuelle Situation gelegt und dort, wo der Vergleich nicht passte, durch Verzerrung der Tatsachen und Unterdrückung von Hinweisen passend gemacht, um ein bestimmtes kommunikatives Ergebnis zu erreichen. Damit wurden die Gefühle, und insbesondere bei der deutschen Bevölkerung und den deutschen Politikern, die Schuldgefühle über die schrecklichen Verbrechen in der Nazizeit geweckt, und so eine politische Entscheidung erreicht, die es ohne diese manipulierende Narrative mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben hätte.

Ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Wirtschaftspolitik:

Wie frei ist der Freihandel?

In dieser Narrative geht um den Kapitalismus, oder noch spezieller den Neoliberalismus als Erfolgsmodel. Wie der renommierte Cambridge-Ökonom Ha-Joon Chang in seinem Buch „23 Lügen die sie uns über den Kapitalismus erzählen” nachzeichnet, handelt es sich bei der „Idee des freien Marktes“, die besagt, dass die Märkte, wenn man sie nur in Ruhe lässt, die effizientesten und gerechtesten Ergebnisse herbeiführen und staatliche Intervention die Effizienz der Märkte dagegen nur bremsen würden, um eine Narrative, die mit der Wirklichkeit wenig gemeinsam hat. Wie kommt er darauf?

Zunächst einmal argumentiert er, dass die Prämisse dieser Idee (er spricht sogar von „Ideologie“), nämlich das Ausgehen von der Existenz eines komplett „freien Markt“, also eines Marktes ohne Regeln und Grenzen, die die Wahlfreiheit einschränken, falsch ist, da es einen solchen überhaupt nicht gibt und geben kann.
Im nächsten Schritt überprüft er die Beweisführung für das Erfolgsmodell „Freier Markt“: Hier wird von den Vertretern der Ideologie die Methode der geschickten Auswahl des historischen Ausschnitts angewendet, um die Wirklichkeit zu verzerren und so die eigene Deutung als alternativlos zu präsentieren: Mit einigen wenigen Ausnahmen wurden alle heutigen reichen Industrienationen – inklusive von Großbritannien und den USA – nur reich durch eine Kombination von starkem Protektionismus, Subventionen und anderen staatlichen Maßnahmen, von denen der Westen (zum Beispiel in Form von Vorgaben der Weltbank und IMF) heute den Entwicklungs- und Schwellenländern stark abrät. Erst als die Industrien in diesen Ländern – auch mithilfe dieses starken Protektionismus und der staatlichen Eingriffe – ihren Konkurrenten in anderen Ländern stark überlegen waren, wurden die Zolltarife, Subventionen und staatlichen Investitionen herunter geschraubt. Wenn hier also der zeitliche Ausschnitt so gewählt wird, dass man das Ausmaß von staatlichen Eingriffen erst in der wirtschaftlichen Erfolgsphase betrachtet, lässt sich die Narrative von dem Erfolgsmodell „Freier Wirtschaft“ und „Freihandel“ aufrecht erhalten. Es entspricht aber nicht der Realität.

Auf einen weiteren Fall einer dominanten Narrative, die so überzeugend ist, dass ich sie als Erzählung gar nicht wahrnahm und deswegen kaum hinterfragte, stieß ich durch ein sehr interessantes und bewegendes Buch, das ich in den frühen 2000er Jahren las:

The way we were

In dem wunderbar geschriebenen Geschichtsbuch „Zu einer anderen Zeit“ (Originaltitel: „The Pity of it All”) von 2002, beschreibt der israelische Journalist und Schriftsteller Amos Elon den entscheidenden Einfluss, den jüdische deutsche Männer und Frauen auf einige der wichtigsten kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des 18. Und 19. Jahrhunderts in Deutschland hatten und wie intellektuell und emotional eng sie mit der deutschen Geschichte verflochten sind. Insbesondere ihre entscheidende Rolle im Rahmen der 1848er Revolution als Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte, Schriftsteller und Kämpfer war mir vor der Lektüre des Buches kaum bewusst. Erst beim Lesen wurde mir klar, wie sehr ich die „Abspaltung“ der Deutschen jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens von dem Rest der Bevölkerung, die durch die Ideologie der Nationalsozialisten, die Rassengesetze und später den Holocaust, erfolgte, historisch rückwirkend auch auf die Jahre und Jahrhunderte davor „projiziert“ hatte. Und mir wurde klar, wie wenig ich über die bewundernswerten demokratischen Bestrebungen deutscher (christlicher, jüdischer, agnostischer) Männer und Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts wusste, weil ich, wie viele Menschen, die in der Bundesrepublik aufwuchsen, so wenig über unsere eigene demokratische Tradition gelernt hatte. Der Fokus unserer allgemeinen historischen Bildung (ich spreche natürlich nicht von Historikern, sondern von uns Laien) war in der Schulausbildung und im öffentlichen Diskurs so stark auf die autoritären und diktatorischen Epochen der deutschen Geschichte fokussiert, dass diese Tradition und die Menschen, die sie schufen, fast darin untergegangen waren. Nun kann man sicher über all diese Fragen zu verschiedenen Einschätzungen, Gewichtungen und Bewertungen kommen. Was aber wichtig ist und an diesem Beispiel gut sichtbar, ist, dass eine andere Perspektive auf unsere eigenen demokratischen Traditionen und auf die Geschichte der jüdischen Deutschen möglich ist.

We live in stories the way fish live in water

Die Beschäftigung mit Storytelling und die Analyse gesellschaftlicher Narrative sind also keine nette Nebensache, keine Liebhaberei (das natürlich auch), kein spezielles, aber abseitiges kommunikationstheoretisches Nischenthema, sondern sie dienen dazu, zu erkennen wie diese Narrative und ihr manipulativer Einsatz, wichtige Haltungen und Einschätzung der Menschen und damit auch wichtige Entscheidungen im Bereich Politik und Wirtschaft beeinflussen.

Es gibt einen Witz, in dem zwei Fische einen Badegast belauschen, der ausruft: „Oh, ist das Wasser schön heute!“ Der eine Fisch sagt darauf zu dem Anderen: „Was ist Wasser?“.

Auch wir schwimmen in Narrativen wie Fische im Wasser und sind uns dieses unsichtbaren Umfeldes oft nicht bewusst. Ich wünsche mir, dass die kritische, aber auch konstruktive Beschäftigung mit Narrativen und Narrativ-Konstruktionen dazu führen wird, das gesellschaftliche Bewusstsein über diese Techniken und Prozesse zu stärken. Denn so lange wir nicht wissen, dass es diese Ebene überhaupt gibt oder zu wenig darüber wissen, wie sie funktioniert, sind wir manipulierbar und können nicht zu freien und fundierten Entscheidungen kommen, die wir als Bürger und Bürgerinnen dieser Welt treffen müssen, damit Demokratie funktioniert.

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