Es gab eine Zeit, da habe ich immer geglaubt, was in der Zeitung steht. Wenn ich am Nachmittag aus der Schule kam, nahm ich mir oft einen Tee aus der großen Glaskanne, die immer auf unserem Esstisch stand, und einen Apfel, legte ich mich auf unseren kratzigen hellbraunen Sisal-Teppich in die Sonne und breitete die ZEIT vor mir aus. Wie ein Buch versuchte ich, sie sorgfältig Seite für Seite von vorne bis hinten durchzulesen. Ich war sicher, die Journalisten und Journalistinnen würden objektiv berichten; sie hätten einen Wissensvorsprung, den ich durch aufmerksames Lesen über einige Jahre vielleicht irgendwann aufholen könnte. Es fiel mir nicht ein, zu hinterfragen, was sie berichteten. Für mich waren sie Zeugen, die widergaben. Sie waren meine Augen und Ohren in die Welt. Und sie waren Experten in ihren Gebieten, Wirtschaft, Naturwissenschaft, Politik, Geschichte. Und ich war froh, dass sie mir erklärten, wie diese Dinge funktionierten. Ich las die Zeitung, so wie ich meine Schulbücher las. Ich dachte, ich lebe in einer gesicherten Demokratie. Der freien Welt. Ich hatte das Glück, in einem Land der Presse- und Meinungsfreiheit zu leben. Propaganda, Regierungslügen, das waren alles Dinge aus der Vergangenheit oder etwas, das in Diktaturen, in anderen Ländern passierte. Wir hatten es überwunden. Unser Problem war das nicht mehr. Diese Gewissheit ist mir inzwischen abhanden gekommen.
„Lügenpresse: (im 19. Jahrhunderts entstandenes) Schlagwort für Medien, besonders Zeitungen und Zeitschriften, denen unterstellt wird, unter politischem, ideologischem oder wirtschaftlichem Einfluss zu stehen, Informationen zu verschweigen oder zu verfälschen und so die öffentliche Meinung zu manipulieren“ Duden, 2014
Ist der Begriff eigentlich neu? Nein, ist er nicht. Er ist mir zwar erst im Rahmen der ersten „Ukraine-Krise“ ca. 2014 und dann kurz darauf, 2015, während der „Flüchtlingskrise“ wirklich prominent begegnet. Tatsächlich ist er aber schon viel älter. Vereinfacht kann man sagen, dass, seit es Presse gibt, es auch den Vorwurf der Lügenpresse gibt. Schon im Jahr 1695 verteidigte ein Mann namens Kaspar von Stieler die Zeitungen gegen den Vorwurf, dass sie „Ungewiß und Lügenhaft“ seien. Auch ein Zeitungsschreiber sei „ein Mensch, der nicht vollkommen ist und irren kann.“
Im Rahmen der 1848er Revolution tauchte dann der Begriff „jüdische Lügenpresse“ auf und zwar in der Kritik eines konservativen Priesters über einen Artikel über die Trauerfeier für den hingerichteten republikanischen Robert Blum, der seiner Ansicht nach Aufruhr geschürt habe.
Später hieß es dann erweitert noch „Logen- und Lügenpresse“, mit nicht nur anti-jüdischen, sondern auch anti-freimaurerischen Konnotationen (in einer Rede von Viktor Kolb, 1905, bei der Gründungsversammlung eines Vereins zur Förderung der katholischen Presse in Österreich). Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 wurde der Begriff „französische Lügenpresse“ landläufig. Dies bezog sich zum Beispiel auf Darstellungen der Deutschen als Heiden, die rohes Fleisch äßen und Kinder verspeisen würden. Hier richtete sich der Vorwurf also schon gegen offensichtliche Kriegspropaganda.
Wir leben in einer Zeit, in der die Diskursfähigkeit abnimmt, in der die verschiedenen Gruppierungen in ihre Nischen und Ecken fliehen und die Fliehkraft wirkt natürlich zu den Rändern hin. Wir treiben auseinander. Wir befinden uns in einem immer offener ausbrechenden „Krieg der Geschichten“.
Jede Situation ist ein Prisma. Sie kann von vielen Seiten beleuchtet werden. Jede Situation ist deutbar. Unsere Vorerfahrung, unser Wissen, unsere Meinungen bestimmen, was wir in einer Situation erkennen und wie wir sie interpretieren. Die Medien sind ebenfalls Deuter der Wirklichkeit und agieren als Verstärker ihrer jeweiligen Interpretation.
Aber einige Situationen können unsere Wahrnehmungen und unser Weltbild auch verändern und aufbrechen. Manche Ereignisse und Aussagen verursachen eine Erschütterung im öffentlichen Diskurs oder in der eigenen Wahrnehmung. Manchmal schleichend, manchmal plötzlich, wie durch eine Explosion. Weil sich an ihnen zeigt, welche Diskurse und Meinungen herrschen, welche hinterfragt und überarbeitet werden müssen, welche Diskrepanzen herrschen.
https://www.youtube.com/watch?v=ToKcmnrE5oY
Für mich war das zum Beispiel ein Interview mit dem Nahost-Experte Michael Lüders in der Sendung von Markus Lanz am 5.4.2017 über den Syrien-Krieg und insbesondere über den Giftgas-Angriff vom 4. April 2017. Syrische Oppositionskämpfer hatten am 4. April rund 80 Tote und 200 Verletze bei einer Giftgas-Attacke in der Stadt Chan Scheichun in der nordwestlichen Provinz Idlib gemeldet und die syrischen Regierungstruppen dafür verantwortlich gemacht. Die syrische Regierung wies diese Vorwürfe zurück. Lüders sagt in der Sendung, dass es allen Kriegsparteien zuzutrauen wäre, für diesen Giftgas-Angriff verantwortlich zu sein, da es dort nicht die „Guten“ und die „Bösen“ gebe. Er sagt außerdem, dass die Indizien in die Richtung zeigen, dass es sich um einen sogenannten Angriff unter falscher Flagge handele. Er gehe davon aus, dass es sich um eine Tat der Al-Nusra-Front, einer der schlimmsten djihadistischen Gruppen, zusammen mit dem türkischen Geheimdienst MIT handelt.
Es folgt ein medialer „shitstorm“. Die BILD-Zeitung beschuldigt Lüders der Verbreitung russischer Fake-News. Die „WELT“ bezeichnet ihn als „vermeintlichen Nahost-Experten“ und „munter draufloslabernden Assad-Apologet“. Die „FAS“ zitierte Can Dündar, den Lüders als Quelle zitiert hatte, mit der Aussage „Totaler Unsinn“. Lüders sagt dazu später in einem 3Sat Interview, dass es scheinbar für die Journalisten nicht vorstellbar ist, dass man aufgrund eigener Recherche und Auswertung von Informationen zu einer kritischen Haltung gegenüber der Version der westlichen Kriegsparteien kommen kann, sondern dass das immer nur aus dem Kreml oder von dunklen Hintermännern gesteuert, passieren könne.
Vielleicht lässt sich die Kommunikations-Aporie von „Lügenpresse“ versus „Fake News“ deshalb nicht auflösen, weil beide Parteien von unausgesprochenen Prämissen ausgehen, die eine Einigung oder auch nur einen konstruktiven sachlichen Dialog verhindern, so lange sie unausgesprochen bleiben. Z.B. die Prämisse: Die USA und die EU-Mitgliedsländer sind moralisch gut. Es geht ihren politischen Führern darum, Demokratie, Frieden und Menschenrechte in allen Ländern der Welt herbeizuführen bzw. zu stärken. Wenn diese Prämisse nicht hinterfragt wird, dann lässt sich der Konflikt nicht auflösen. Denn wenn das stimmt, können Lüders Aussagen und Thesen nicht stimmen.Jetzt ließe sich ja diese Prämisse oder Grundannahme durchaus diskutieren. Man könnte Argumente dafür und dagegen aufbringen. Diese Frage könnte geklärt werden. Aber sie wir nicht vertieft angesprochen. Die Auseinandersetzung bleibt an diesem Punkt stehen und hakt an ihm fest.
(Bemerkung des Angeklagten und 68er Revoluzzers Fritz Teufel im November 1967, als er der Aufforderung eines Berliner Richters sich zu erheben nachkam).
Ich habe Jura studiert, das Referendariat gemacht und auch einige Jahre als Anwältin gearbeitet. Im Referendariat saß ich viele Monate lang in Berliner Gerichtssälen und sah Gerichtsverhandlungen zu. Für das zweite Staatsexamen lernte ich Prozessrecht. Zivilprozessrecht, Strafprozessrecht, Verwaltungsprozessrecht. Das war für mich das Langweiligste und Uninteressanteste an der Juristerei. Aber vielleicht brauchen wir ein solches Prozessrecht und Prozesse, um öffentlichen Debatten besser zu führen und diese Blockaden aufzulösen. Auch vor Gericht streiten häufig zwei Narrativen miteinander. Und es ist die Aufgabe des Richters und der Beisitzer oder Schöffen herauszufinden, welche dieser Narrativen der Wahrheit näher kommt. Dafür wurden Prozessregeln entwickelt. Weil es sonst, genau wie bei der Lügenpresse-Debatte, sehr schnell schief gehen kann.
Man stelle sich einmal vor, es ginge vor Gericht so zu wie in dem öffentlichen Diskurs um Geopolitik, Handelspolitik, Kriegseinsätze und ihre Rechtfertigungen oder die Ausländer-/ Einwanderungspolitik: Eine Partei behauptet einen Ablauf oder eine Tatsache, die andere Partei bestreitet das, vielleicht mit dem Vorwurf „Lügenpresse“ und behauptet einen anderen Ablauf oder andere Tatsachen. Die erste Partei beschimpft die zweite als „Lügner“ oder „Fake News-Verbreiter“. Und damit hört es auf. Beide Parteien versuchen vielleicht noch (das im optimalen Fall) einzelne Indizien und Belege zu liefern, aber hauptsächlich beschimpfen sie sich jetzt nur noch gegenseitig als Lügner und das ist das Ende der Geschichte. Der Diskurs steckt fest. Es gibt keinen Ablauf, keinen Prozess, der folgt und der Wahrheitsfindung dient. Die Beteiligten, die Öffentlichkeit weiß nicht mehr, hat nichts dazu gelernt oder erfahren. Die Menschen haben nur die Wahl der einen oder anderen Seite zu glauben, basierend auf ihrer vorbestehenden Weltanschauung, ihren Glaubenssätzen und der persönlichen Sympathie für die eine oder die andere Partei. Das ist ein Armutszeugnis.
Es gibt journalistische Regeln und Prozesse der Wahrheitsfindung. Aber wie wenig werden sie angewandt. Und das „fact checking“ scheint hauptsächlich dazu zu dienen, die Ansichten oder Fakten, die der eigenen Narrative widersprechen und deren Quellen man misstraut, zu widerlegen. Es ist gerade nicht wie vor Gericht, wo es zwei Versionen eines Geschehens gibt und einen sachlichen, ruhigen, geordneten Prozess, der dazu dienen soll, zu überprüfen, welche Vision richtig oder zumindest plausibler ist.
Der größte Unterschied ist vielleicht die Grundannahme, mit der an den Prozess heran gegangen wird: Dass es sich bei beiden Versionen zunächst einmal um Thesen handelt. Dass sich beide Seiten irren können oder die Wahrheit sogar bewusst verzerrt darstellen. Dass die Wahrheit auch etwas Drittes sein kann, noch eine ganz andere Geschichte. In der „Lügenpresse“/“Fake News“-Debatte ist diese objektive Haltung von Anfang an selten vorhanden. Wenn Kritik an der eigenen Version von der anderen Seite kommt, lautet die Frage nicht „Ist da etwas dran? Könnte die Kritik berechtigt sein? Könnte das wahr sein?“, sondern nur: „Wie kann ich die Kritik widerlegen?“ Das eigene Rechthaben wird nicht in Frage gestellt. Diese Grundhaltung ist gefährlich. Wie soll man so der Wahrheit näher kommen?
Viele Journalisten sind sich ihrer Prämissen gar nicht bewusst. „Der Westen ist gut. Der Westen ist moralisch überlegen. Wir stehen für Freiheit und Demokratie. Unser Eingreifen oder jegliche Tätigkeit ist motiviert von Empathie. Wir wollen den Menschen helfen. Wir wollen die Welt verbessern. Unsere Motive sind nicht wirtschaftlich. Es geht unseren Regierungen nicht um Machterhalt oder Machtausweitung. Es geht uns nicht um den Zugang zu und die Kontrolle von Ressourcen. Wir wollen nur das Beste für unsere Bevölkerung, für alle Menschen. Wir wollen nur helfen.“
Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass deutsche Journalisten und Politiker nicht einmal in Betracht ziehen, nicht einmal drüber nachdenken, nicht einmal – nur als Gedankenexperiment – kurz durchspielen, wie es wäre, wie die Welt aussehen würde, wie die Situation zu beurteilen wäre, wenn diese Grundannahmen nicht stimmen würden, wenn die USA und die Europäischen Staaten, die mit ihnen zusammen arbeiten, nicht altruistisch motiviert wären, oder was auch immer sonst ihre grundsätzlichen Prämissen sind. Daher ähnelt die Berichterstattung leider häufig und vermehrt inzwischen der Propaganda. Das merkt man nicht, wenn man die oben genannten Prämissen teilt. Wenn man aber anfängt, einige davon kritisch zu betrachten und in Frage zu stellen, fällt es einem unangenehm auf. Die Berichterstattung wirkt dann unvollständig, unkritisch, einseitig, voreingenommen. Aber Vorurteile und Vorverurteilungen sind für den, der sie hat, oft unsichtbar.
Auch wenn man fiktionale Geschichten schreibt, geht es um die Konstruktion von Wirklichkeit. Einer fiktionalen Wirklichkeit. Und jede Geschichte ist erst einmal möglich und kann wahr sein.
Durch das Hantieren mit Geschichten und Elementen von Geschichten entsteht eine Geschmeidigkeit im Umgang mit Geschichten. Sie haben nichts Starres und unter Druck Brüchiges mehr, sondern werden weich wie Knete. Sie können gesponnen werden, gebogen, geformt, langgezogen oder zusammen gestaucht. Diese Geschmeidigkeit ist vielleicht jetzt nötig. Dabei geht es nicht um den Abschied von journalistischen Standards oder dem Abschied von einer objektiven Wahrheit. Sondern gerade um die Ermöglichung eines Prozesses zur Aufdeckung der Wahrheit. Um die Auflösung von Starrheit, Verhärtung, Verknotung des Diskurses. Um das Erkennen, dass viele Aussagen und „Wahrheiten“ in Wirklichkeit Geschichten sind bzw. ein wie großer Anteil von den Grundannahmen, die wir für wahr und richtig, unwidersprochen und absolut, „alternativlos“ halten, eigentlich Narrativen sind.
Mich hat als Drehbuchautorin eine Zeitlang das multiperspektive Erzählen interessiert. Die gleiche Geschichte erzählt aus der Sicht unterschiedlicher Personen. Wie zum Beispiel in der dänischen Fernsehserie „Forestillinger“, die vor einigen Jahren auf dem Hamburger Filmfest lief. Jede der sechs einstündigen Folgen war aus der Sicht eine anderen handelnden Figur erzählt. In der Serie wurde mehr oder minder immer die gleiche Handlung im Verlauf von ca. 1 oder 2 Wochen erzählt. Und je nachdem, wer erzählte – der charismatische Theaterregisseur, die schöne Schauspielerin, mit der er eine Affäre hat, seine 14-jährige bulimische Tocher, seine an Krebs erkrankte Ehefrau, der junge Schauspieler, der von der jungen Schauspielerin für den Regisseur abserviert wird oder der Geschäftsführer des Theaters – änderte sich die Geschichte, änderten sich die Handlungen und Aussagen der Personen. Weil wir Situationen und Menschen verschiedenen wahrnehmen und deuten. Oder wie wir bei Gericht sagten: „3 Zeugen, 3 Versionen.“
Wenn man den Blick, den man durch die Beschäftigung mit der Konstruktion von Geschichten und den Umgang mit multiperspektivischen Geschichten entwickelt hat, auf die politische Berichterstattung wirft, fällt auf, wie starr dort der Umgang mit den Geschichten ist.
Das Natürlichste, so scheint mir, wenn es zwei verschiedene Versionen der Wahrheit gibt, wäre es, beiden erst einmal in Ruhe zuzuhören. Sie sich abspulen zu lassen, wie eine Garnrolle. Zu schauen, was sie an sich, in sich, und für sich beinhalten und aussagen.
Und dann, erst in einem zweiten Schritt, zu den Punkten zu kommen, an denen die Narrativen divergieren und jetzt zu überlegen, warum sie divergieren. Dann zu schauen, welche Fakten sich wie überprüfen lassen, welche Plausibilitäten für oder gegen was sprechen. Welche Prämissen, unausgesprochen, den Aussagen und Einschätzungen zugrunde liegen. Also, zu erkennen, auf welcher Ebene der Dissens wirklich liegt und wo er aufgelöst werden könnte – und dabei auch immer einzufaktorieren, wer ein Interesse an einer Lüge haben könnte.
Am Ende geht es ja um Wahrheitsfindung. Auch wenn am Anfang die beiden Vertreter der sich widersprechenden Narrativen sich wie Kombattanten gegenüber stehen und mit ihren Geschichten fechten, muss es irgendwann in einer Demokratie zum nächsten Schritt kommen. Dann stehen die beiden Vertreter nebeneinander, Schulter an Schulter, wie Wissenschaftler in einem Labor und gemeinsam erarbeiten sie die Wahrheit. Denn nur so kommen wir weiter. Nur so gibt es einen Erkenntnisgewinn.
Und jeder, der sich einem solchen Dialog und Weiterkommen verweigert, scheint mir, kein wirkliches Interesse an der Wahrheit, sondern nur ein Interesse an der Kontrolle des Diskurses zu haben. Gerade weil er oder sie nicht will, das bestimmte Wahrheiten ans Licht kommen. Wer wirklich Interesse an der Wahrheit hat, der braucht den Ausgang des Diskurses nicht zu kontrollieren.
Matthias MProveApril 08, 2023 at 18:01
Are we the Baddies >> Link-Update https://www.youtube.com/watch?v=hn1VxaMEjRU
MaikeMai 25, 2023 at 17:38
Danke!